Welche Folgen hat der Krieg in der Ukraine für die Geldpolitik der Nationalbank?

Thomas Jordan, Präsident des Direktoriums

114. ordentliche Generalversammlung der Aktionärinnen und Aktionäre der Schweizerischen Nationalbank, Bern, 29.04.2022

Der russische Angriff auf die Ukraine hat die weltpolitische Lage grundlegend geändert. Er hat aber auch tiefgreifende wirtschaftliche Auswirkungen und wirft die Frage auf, ob die Integration der Weltwirtschaft wieder abnehmen wird.

Die Globalisierung der vergangenen rund dreissig Jahre hat zu einer imposanten weltwirtschaftlichen Vernetzung geführt. Eine verstärkte internationale Arbeitsteilung, vermehrt global investiertes Kapital sowie ein enormer Wissenstransfer zwischen den Ländern führten zu einem höheren Wirtschaftswachstum und mehr Wohlstand.

Die zunehmende Integration hatte aber auch Auswirkungen auf die Geldpolitik, denn die globale Güterproduktion reduzierte den Inflationsdruck erheblich. Dies erlaubte es den Zentralbanken, verstärkt auf ungünstige Konjunkturentwicklungen zu reagieren. So lockerten sie in den letzten fünfzehn Jahren die Geldpolitik wiederholt, um während Krisen schwere Konjunktureinbrüche und anhaltend negative Inflationsraten zu verhindern.

Die grossen Wirtschaftsblöcke begannen das Jahr 2022 als Folge der Corona-Pandemie mit deutlich erhöhten Inflationsraten, und das Kriegsgeschehen und die Sanktionen gegen Russland führten zu einem markanten Anstieg der Energie- und Rohwarenpreise, der den Inflationsdruck zusätzlich erhöhte. Der Krieg wird realwirtschaftliche Folgen haben, deren Ausmass heute noch schwer abzuschätzen ist. Für die globale Geldpolitik stellen sich wichtige Fragen: Wie breit und anhaltend ist der gegenwärtige Inflationsdruck? Wie stark wird die globale Konjunktur gebremst? Diese Fragen stellen sich auch in der Schweiz, obwohl hierzulande der Inflationsdruck vergleichsweise moderat ist.

Der Krieg in der Ukraine dürfte darüber hinaus längerfristige Folgen haben. So scheint es aus heutiger Perspektive durchaus möglich, dass der Integrationsgrad der Weltwirtschaft wieder abnehmen wird. Dies hätte einen grossen Einfluss auf die Inflation und die Konjunktur, die beiden wichtigsten Grössen für die Geldpolitik. Die Zentralbanken müssen diese Entwicklung deshalb sehr wachsam verfolgen, um die verschiedenen Kräfte richtig einzuordnen und ihr Mandat auch unter veränderten Gegebenheiten zu erfüllen.