Anstieg der Erdölpreise – eine Herausforderung für die Geldpolitik?

Jean-Pierre Roth, Präsident des Direktoriums

Déjeuners de la Finance, Genf, 02.11.2005

Obwohl sich die Erdölpreise auf einem historisch hohen Niveau befinden, ist die Inflation in den letzten Quartalen nur wenig gestiegen, und das Wachstum scheint robust zu sein. Muss man nun daraus schliessen, dass dem Erdöl im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld keine Bedeutung mehr zukommt? Welche Herausforderungen ergeben sich aus der momentanen Situation für die Geldpolitik?

Zum ersten Mal steigen die Energiepreise nicht aufgrund einer Boykottpolitik der Erdöl produzierenden Länder stetig an, sondern wegen einer anziehenden Energienachfrage, insbesondere aus den neu industrialisierten Ländern Asiens. Die Verteuerung des Rohöls ist also dieses Mal die unmittelbare Folge des starken Wachstums der weltweiten Wirtschaftstätigkeit.

Das bedeutet aber nicht, dass sich die Rolle der Geldpolitik verändert hat. Auch wenn es scheint, dass die Kerninflation zur Zeit in den meisten Ländern unter Kontrolle ist, könnte sich ein anhaltender, kontinuierlicher Anstieg der Energiekosten längerfristig auf die Gesamtheit der Preise und Löhne auswirken, was die monetäre Stabilität gefährden würde. Obwohl die Inflation, abgesehen von den Energiepreisen, tief ist, müssen die Währungsbehörden ihren zukunftsgerichteten Kurs halten, um ihre Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen und in der längeren Frist die Preisstabilität zu wahren.